- John und Jane
- Gewitternacht
John und Jane
Sein blaues Karohemd war schmutzig und stank nach Schweiß, aber das war John gewohnt. Achtlos wischte er seine vom Motoröl schmierige Hand am Ärmel ab und legte mit der anderen Hand den Schraubenschlüssel zur Seite. Wie lange machte er diese Arbeit nun schon? Er seufzte und warf einen Blick auf das vor ihm stehende Auto. Nachdem er die Schule während der zehnten Klasse abgebrochen hatte, weil seine Mutter schwer erkrankt war und er sich um den Haushalt und seinen jüngeren Bruder kümmern mußte, hatte er gleich angefangen, in verschiedenen Autowerkstätten zu jobben. Als es seiner Mutter nach etwa einem halben Jahr – oder war sie länger krank gewesen? – langsam wieder besser ging, machte er bei „Heino`s Cars“ eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, wurde nach bestandener Abschlußprüfung von dem Betrieb übernommen und hatte seitdem seinen Arbeitsplatz nicht mehr gewechselt. John seufzte, wischte auch seine linke Hand am Ärmel seines Hemdes ab und drehte sich um. Wie so oft in den letzten Tagen hatte er wieder Überstunden machen müssen, die ihm nicht berechnet wurden. Sein Kollege Robert hatte eine schwere Grippe, und in einem kleinen Drei-Mann-Betrieb wie „Heino`s Cars“ mußte jeder für den anderen einspringen. Die Zeiten waren hart, das Geschäft lief nicht gut, und er hatte keine Wahl, wenn er nicht gefeuert werden wollte. Aber ausgerechnet an diesem Abend war die Schultheateraufführung seines kleinen Bruders. Chris hatte die letzten Wochen von nichts anderem als seinem Auftritt gesprochen – John könnte es sich nicht verzeihen, wenn er diesen besonderen Moment verpassen würde. Leicht gereizt packte er das Werkzeug zusammen, räumte es an seinen Platz und wischte die Werkbank mit einem verblichenen Lappen ab, den er danach achtlos auf einen Stapel alter Autoreifen warf. Sein dreckiges Hemd tauschte er gegen ein frisches weißes und sprühte sich mit Deo ein. Das mußte reichen. Zum Duschen hatte er keine Zeit mehr. Er holte seine Schlüssel hervor, öffnete die Tür und knipste das Licht aus. Die bereits dunkle Straße war nur von ein paar Lampen beleuchtet. John verschloß die Werkstattür, holte einmal tief Luft und lief dann zu seinem alten Ford, den er drei Meter weiter am Straßenrand geparkt hatte. Wenn er Chris` Auftritt nicht verpassen wollte, mußte er sich beeilen! Er steckte den Schlüssel ins Zündschloß, startete den Motor, legte den ersten Gang ein und fuhr los.
Jane knallte die Zimmertür hinter sich zu. Glaubte ihre Mutter wirklich, ihr immer noch Vorschriften machen zu können?! Schlecht gelaunt ging Jane zu ihrem Kleiderschrank hinüber. Sie war zwanzig Jahre alt. Nur weil sie noch bei ihrer Mutter lebte, hieß das noch lange nicht, daß diese sie weiterhin wie ein Kind behandeln durfte! Wäre ihr Vater bereits von der Arbeit zurück gewesen, hätte sie ihre Mutter gar nicht erst gefragt! Ihr Vater erlaubte ihr fast alles, und wenn er erst einmal ´ja` gesagt hatte, konnte ihre Mutter nichts mehr an seiner Entscheidung ändern. Doch er war, wie so häufig, selbst zu dieser Stunde noch im Büro. Wenn Jane vor ihrer Mutter erwähnte, er nehme sich gar keine Zeit mehr für seine Familie, schimpfte ihre Mutter nur mit ihr und sagte, er würde das nur für sie tun, für ihr Studium und damit sie nicht nebenher arbeiten gehen müsse. Jane hatte schon längst ihre eigene Theorie aufgestellt, und sie glaubte nicht, daß ihrer Mutter wirklich entgangen sein konnte, wie jung und hübsch die neue Sekretärin ihres Vaters war! Verärgert wegen des Benehmens ihres Vaters und dem Streit mit ihrer Mutter riß sie die Türen des Kleiderschrankes auf, durchwühlte ihn und kramte schließlich ein langes, rotes Kleid hervor. Sie würde zu Cindys Party gehen! Und sie würde so lange dort bleiben, wie es ihr beliebte! Als es an der Tür klingelte, eilte Jane in den Flur. Es mußte Lizzy sein, die versprochen hatte, sie im Auto mitzunehmen!
„Ich komme sofort!“, rief sie, zog sich Stiefel und Mantel an und schaute kurz in die Küche, um ihrer Mutter wenigstens noch eine gute Nacht zu wünschen. Dann lief sie zur Haustür. Es war tatsächlich Lizzy. Sie lächelte ihr entgegen und wartete, bis sie eingestiegen war.
„Schön, daß du mitkommst“, sagte sie und fuhr los. Bis zu Cindy war es nicht sehr weit, und Lizzy fand fast direkt vor Cindys Haustür einen Parkplatz. Schon beim Aussteigen hörte Jane Musik und Gelächter. Sie versuchte, den Streit mit iherer Mutter fürs erste zu vergessen und nahm sich vor, die Party zu genießen. Lizzy hakte sich bei ihr unter, und gemeinsam stiegen sie die wenigen Treppenstufen zu Cindys Tür empor. Noch bevor sie die Wohnung richtig betreten hatten, wurde ihnen ein Glas Sekt in die Hand gedrückt. Jane lachte und stieß mit den anderen auf einen schönen Abend an. Wie ihre Eltern ihre Beziehung führten, ging sie nichts an, auch wenn es sie betrübte. Sie sollte sich darüber nicht so viele Gedanken machen.
John trat auf die Bremse, daß die Reifen quietschten. Er hatte gehofft, die Ampel noch bei Orange überqueren zu können, aber kurz bevor er die Haltelinie erreicht hatte, war sie bereits auf Rot umgesprungen. Einen Strafzettel wegen einer nicht beachteten roten Ampel konnte er sich nicht leisten. Er würde froh sein, wenn das Geld diesen Monat für Miete und Essen reichte – seine Mutter verdiente bei ihrem Putzjob nicht sehr viel. Außerdem würde sie sich nur aufregen, wenn im Briefkasten ein Brief vom Ordnungsamt liegen würde – ihrem Herzen ging es seit ihrer langen Krankheit zwar wieder besser, aber der Arzt hatte gewarnt, man solle sie dennoch keiner unnötigen Aufregung aussetzen. John wartete nervös, bis die Ampel auf Orange umschlug, und trat aufs Gaspedal. Der Verkehr war zwar nicht sehr dicht, aber er hatte sich mit der Länge des Weges zu Chris` Schule verschätzt. Leise fluchend bog er in die nächste Seitengasse ein. Wenn er die großen Straßen mit den Ampeln mied, würde er vielleicht etwas schneller voran kommen. Außerdem waren in den kleineren Gassen fast keine anderen Verkehrsteilnehmer unterwegs. Nachdem er drei oder vier Mal abgebogen war, war er sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er den richtigen Weg genommen hatte. Verwirrt schaute er nach links, um den nächsten Straßennamen lesen zu können. Aber er kam nicht bis zur Ecke. Ein lauter Knall und ein heftiger Schlag auf die Motorhaube ließen ihn augenblicklich vor Schreck auf die Bremse treten. Doch es war schon zu spät. Als er ausstieg und zu dem Körper eilte, der vor seinem Auto auf der Straße lag, merkte er sofort, daß der Mann tot war. Seine Glieder waren seltsam verrenkt und sein blutüberströmter Kopf wies in die falsche Richtung. In der ersten Sekunde konnte John gar nicht reagieren. Er stand nur wie angewurzelt da und starrte auf den Mann, den er soeben totgefahren hatte. Sein Herz raste, und seine Gedanken überschlugen sich. Was würde aus ihm werden, wenn er wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurde? Was würde aus seiner Mutter und seinem Bruder werden? Er riß sich aus seiner Erstarrung, schaute gehetzt in alle Richtungen, packte den Leichnam entschlossen an den Beinen und zog ihn von der Straße weg. Dann stieg er schnell wieder in seinen Wagen – den Motor hatte er noch nicht einmal ausgestellt – und fuhr los. Zuerst bog er einfach nur wahllos rechts und links in kleine Seitenstraßen ein, dann traf er auf eine Hauptstraße. Am Stopschild hielt er kurz an, wischte das leicht angetrocknete Blut von seinen Händen und dem Lenkrad und ordnete sich in den Verkehr ein. Er wußte nicht, wo er war oder wohin er fuhr. Er wollte einfach nur weg, fort von dem Ort eines Geschehens, das ihm niemals hätte zustoßen dürfen.
Jane lachte. Eine alte Freundin von Cindy hatte eine Geschichte aus ihrer gemeinsamen Schulzeit erzählt. Jane hob gerade das Sektglas an ihre Lippen, als ihr Handy klingelte. Weil die Musik und das Gelächter der anderen so laut waren, entschuldigte sie sich, lief schnell den Flur entlang und drückte auf die grüne Hörertaste, während sie durch die Haustür nach draußen eilte.
„Hallo? Wer ist da?“, fragte sie außer Atem. Es war ihre Mutter. Jane preßte das Handy an ihr Ohr und setzte sich auf die oberste Stufe der kleinen Treppe, die von der Haustür auf den Gehweg führte. Ihre Mutter sagte nicht gleich etwas, stattdessen hörte Jane ein leises Schluchtzen. Bereute ihre Mutter den Streit zwischen ihnen und wollte sich jetzt entschuldigen?
„Nun sag schon, was los ist“, forderte Jane. Ihre Mutter murmelte etwas, das sie nicht verstehen konnte. Als Jane erneut nachfragte, schrie ihre Mutter:
„Dein Vater ist tot! Er wurde überfahren! Und der Schuldige hat Fahrerflucht begangen.“ Jane wollte ihren Ohren nicht trauen, doch am Tonfall ihrer Mutter erkannte sie sofort, daß diese nicht scherzte.
„Dein Vater ist tot“, hörte Jane erneut, dann legte sie auf. Einen Moment lang saß sie nur fassungslos da und starrte auf den dunklen Gehweg, dann stand sie wortlos auf und lief die Treppenstufen hinab. Ohne sich umzudrehen ging sie nach rechts die Straße entlang, erst langsam, dann immer schneller, bis sie schließlich rannte. Sie wußte nicht, wohin, sie rannte einfach nur ziellos immer weiter.
Um das Zittern seiner Hände zu stoppen, umklammerte John das Lenkrad, bis seine Knöchel weiß hervorstachen. Schweiß lief seine Stirn herab, und sein Atem ging ungleichmäßig und gehetzt. Er fuhr noch einige Straßen weiter und zwang sich dann, in einer Seitenstraße rechts ranzufahren, um sich zu beruhigen, damit er nicht gleich noch einen Unfall verursachte. Er stellte den Motor ab, versuchte, seine verkrampften Hände vom Lenkrad zu lösen, und fluchte, daß ihm so etwas hatte passieren können. Er hätte besser aufpassen müssen und er war eindeutig schuld an dem tötlichen Unfall gewesen! Dann versuchte er, vor sich selbst seine Fahrerflucht zu rechtfertigen. Was hätte er anderes tun sollen? Sich stellen und riskieren, daß seine Familie daraufhin in Armut oder sogar Not leben würde? John stieg aus dem Auto und begutachtete die Beule, die der Aufprall des Körpers in seiner Motorhaube hinterlassen hatte. Den Schaden würde er in der Werkstatt schnell richten können. Er setzte sich wieder auf den Fahrersitz und starrte vor sich auf die leere Straße. Er hatte gerade einen Mann getötet – wie konnte er da über die Beule in seiner Motorhaube nachdenken? Wie konnte er überhaupt noch denken? Würde er je mit seiner Schuld klarkommen? Erneut umklammerte er das Lenkrad, um das Zittern seiner Hände nicht sehen zu müssen.
Jane strauchelte und hielt sich an einer Straßenlaterne fest, damit sie nicht hinfiel. Sie wußte nicht, wie weit sie schon gerannt war. Nach Atem ringend umklammerte sie den Laternenpfahl. Jemand hatte ihren Vater überfahren und dann Fahrerflucht begangen! Einfach so! Um den Schmerz über den Verlust ihres Vaters zu verdrängen, verfluchte sie laut den Menschen, der zu so etwas fähig gewesen war.
„Ich bringe das Arschloch um!“, rief sie, doch es war niemand auf der Straße, der sie hätte hören können. „Ich werde den Mörder finden…“ Jane glaubte, noch nie so eine Wut in sich gespürt zu haben. Doch Wut war nicht lange das Gefühl, das die Oberhand behielt. Jane begann zu zittern.
John umklammerte nicht länger das Lenkrad. Seine Finger wurden vielmehr kraftlos und rutschten in seinen Schoß. Er beachtete das Zittern seiner Hände nicht mehr. Eine Verzweiflung, wie er sie zuvor noch nie empfunden hatte, ergriff ihn. Er fühlte sich hilflos und allein auf der Welt. Die ersten Tränen versuchte er zu unterdrücken, doch als ihm das nicht gelang, ließ er ihnen freien Lauf. Sein Leben würde nie wieder so sein, wie es gewesen war. Selbst wenn man ihn nicht als Schuldigen erkennen würde, mußte er mit der Last seiner Schuld leben.
„Warum?“, flüsterte er. „Warum mußte mir das passieren?“
Janes Wut verflog langsam. Selbst wenn sie den Mörder finden würde – ihr Vater würder dadurch nicht wieder lebendig werden! Ihr krampfhaftes Weinen ging in ein unkontrolliertes Schluchzen über. Sie ließ den Laternenpfahl los, kniete sich auf den kalten Steinboden des Gehweges und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Wie konnte es pasieren, daß ihr Vater von einem Moment zum anderen tot war? Einfach nicht mehr da! Die Zeit schien mit einem Mal still zu stehen, und Jane weinte, ohne zu merken, daß sie mittlerweile in der kalten Nachtluft fror.
John versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen. Er atmete ein paar Minuten lang so langsam er konnte ein und aus, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und öffnete dann die Autotür. Er brauchte frische Luft. Er hatte plötzlich das Gefühl, in seinem Auto zu ersticken. Seine Jacke lag achtlos auf dem Rücksitz, und John zog frierend sein Hemd enger um den Körper, als er die Straße entlanglief. Was er jetzt brauchte, war ein kräftiger Schluck Alkohol! Er bog nach links in die nächste Gasse und steuerte auf eine Kneipe zu, die er auf der anderen Straßenseite entdeckte.
Jane hörte auf zu weinen. Sie hatte keine Tränen mehr. Ihre rot geschwollenen Augenlider brannten. Mit einem Mal merkte sie, wie kalt es geworden war. Zitternd stand sie auf, zog ihren Mantel enger um sich und lief los. Sie brauchte jetzt einen Drink. In der nächste Kneipe, die sie sehen würde, würde sie einen doppelten Whisky bestellen.
John wankte auf die Eingangstür zu. Zwei, drei Meter von ihr entfernt zwang er sich zu einem festeren Schritt, strich sich kurz übers Haar und betrat dann entschlossen das Lokal. Warme Luft schlug ihm entgegen. Am Tresen saßen zwei alte Männer, die sich bei einem halbvollen Glas Bier unterhielten. Die restlichen Tische waren menschenleer.
„Was kann ich Ihnen bringen?“, fragte der Wirt.
Jane bog in die nächste Gasse ein. Knapp neben der Ecke war eine Kneipe, deren Tür gerade zuschwang. Jane überlegte nicht lange, rannte die letzten Schritte und betrat den warmen Schankraum. Am Tresen saßen zwei alte Männer bei einem halbvollem Glas Bier. Neben ihnen stand ein junger Mann mit geröteten Wangen – vermutlich hatte er gerade vor ihr den Raum betreten und die Kälte der Nacht zeigte noch ihre Spuren in seinem Gesicht. Er sah traurig aus, und ein wenig durcheinander.
„Was kann ich Ihnen bringen?“, fragte der Wirt.
John schaute zur Tür, die sich erneut geöffnet hatte, bevor sie hinter ihm wieder ins Schloß gefallen war. Eine junge Frau betrat das Lokal. Ihre Wangen waren von der Kälte der Nacht gerötet. Auch ihre Augen waren rot, als habe sie erst vor kurzem geweint. Sie wirkte irgendwie kummervoll und hilflos. John wandte sich wieder dem Wirt zu.
„Einen doppelten Whisky“, sagte er. Die junge Frau bestellte im selben Moment das gleiche. Der Wirt zog fragend die rechte Augenbraue hoch. John drehte sich zu der jungen Frau um und rang sich ein Lächeln ab. Sie erwiderte es.
„Scheint so, als bräuchtest du jetzt genau das, was ich auch brauche“, sagte John.
„Ja, das scheint zu stimmen.“ Jane schaute in die Augen des jungen Mannes. Ihr kam es vor, als sei er in ähnlicher Verfassung wie sie selbst.
„Wollen wir uns dort an einen der Tische setzten?“, fragte John zögernd. Er hatte das Gefühl, mit irgend jemandem über das Geschehene reden zu müssen.
Jane nickte und folgte ihm. Es würde ihr sicher gut tun, mit jemandem über ihren Verlust zu sprechen.
„Ich bin übrigens John“, stellte John sich vor.
„Ich heiße Jane“, sagte Jane.
© E. C. M. Tüx
Gewitternacht
Es fühlt sich kalt an, das Eisengeländer, an das ich mich klammere. Kalt wie der Nachtwind, der mein Haar zerzaust. Kalt wie das dreckige Wasser des Kanals vor mir. Und kalt wie mein Herz.
Zittere ich, oder erbebt die steinerne Brücke beim Klang des Donners? Ich presse mich fester an die eiserne Brüstung. Die Stille nach dem Donnerschlag läßt Raum für das Lied des prasselnden Regens.
Weine ich, oder ist auch der Regen getränkt mit Salz?
Eine Böe schlägt mir erbarmungslos meine nassen Haarsträhnen ins Gesicht.
Peitschenhiebe.
Dann folgt der Blitz, läßt den Mond erblinden und taucht die Welt in gleißendes Licht. Silbergekrönt sind die Wellenkämme des Kanals, schwärzer als zuvor die Schatten der Häuser. Bewegungslos hängt die Zeit in der Luft, wie ein Schrei, der aus der Tiefe des Herzens dringt.
Dann zerbricht der Augenblick, und Dunkelheit kehrt zurück.
Der Kanal stinkt nach Unrat und Fäkalien, nach Wasserratten und totem Fisch. Mir ist schlecht. Doch plötzlich dreht der Wind, und es riecht nach feuchtem Laub, nach regengetränkten Bäumen und Büschen, nach Einsamkeit und Schmerz. Dein Name tanzt im Regen auf dem schwarzen Wasser des Kanals. Dein Name tönt im Klang der Kirchenglocke, der die Nacht in Stücke reißt und dann zerstört zurückläßt. Dein Name dröhnt in meinem schmerzenden Kopf, dein Gesicht spiegelt sich in meinen geröteten Augen. Du bist bei mir, ganz dicht, auf meiner Haut, in mir, warm und weich. Dann ertönt der nächste Donnerschlag und ich weiche vor dir zurück. Der grelle Blitz zerschneidet das Band zwischen uns, und ich weiß, ich muß dich nun auch innerlich verlassen.
Meine kältetauben Finger verlieren den Halt. Hilflos sinke ich zu Boden, zitternd, naß, allein. Stunden vergehen, und ich sehe nichts, rieche nichts, fühle nichts außer der Leere in mir.
Ein Vogel ruft.
Der Regen hat aufgehört, nur von den Zweigen der Bäume und Büsche fallen Tropfen und verlieren sich in der tränengetränkten Erde. Der Vogel ruft erneut, und ich hebe ganz langsam den Kopf. Die Nacht zieht sich zurück und macht dem Morgen Platz, der Vogel kreist verträumt, läßt sich dann sacht auf einem alten Pfosten nieder. Fragend schaut er zu mir – und plötzlich weiß ich: Nun bin ich frei, wie er.
© E. C. M. Tüx